Nr. 03/1999 Die Miezen-Dichterin
Eine junge Zahnärztin schreibt die abgedrehten Texte zu den nackten Frauen in der Bild-Zeitung
Von Benjamin von Stuckrad-Barre
Lutsch, lutsch, flutsch. Katja (29) ist promovierte Zahnärztin. Aber Löcherstopfen allein reicht ihr nicht. Da ist sie anders als ihre männlichen Kollegen. Deshalb sitzt sie ohne (Schreib-)Hemmungen ganz allein in der Redaktion, ihre Bluse hat sie im Archiv vergessen. Sei's drum: Gleich kommt der Ressortleiter und gibt Nachhilfe mit dem großen Zeigestock ...
So würde sie wohl über sich schreiben, wenn dieses Foto links um 16.30 Uhr auf ihren Tisch flatterte, um am nächsten Tag auf der Titel- oder letzten Seite der Bild-Zeitung zwischen Flugzeugabsturz, Bahnerpressung und Steuererhöhung für ein bißchen Freude zu sorgen. Die Zahnärztin Dr. Katja Kessler ist die Frau hinter dem Text unter den Frauen. Sie schreibt diesen täglichen Irrsinn, der für viele Menschen das einzige Stückchen Poesie pro Tag darstellt.
Betextet werden muß die tägliche Nackte, weil eine Tageszeitung ja nicht einfach eine Pornoecke zum Ausschneiden haben möchte. Deshalb die Phantasienamen, die Altersangaben. Aber auch, um Greifbarkeit vorzutäuschen: Es gibt sie wirklich, sie, in Klammern 24, das Model, die Biggi, die Kathi, das Mausi. Warum sind sie eigentlich nackt? Weil, ein Klischee, der Bauarbeiter damit in der Frühstückspause aufs Dixi-Klo geht und seine hundert Kilogramm Ehefrau kurz mal vergißt? Ach wo, vielmehr, weil die Wäsche im Kochwaschgang eingelaufen ist oder weil sie, puh, ganz schön verschwitzt, gerade vom Fitneßtraining kommt und jetzt duschen will. Oder ein Schlawiner ihr die Kleider gestohlen hat. Und, der Voyeur wird an die Hand genommen (wenn er noch eine frei hat), "gleich kommt der Fitneßtrainer und schaut nach dem Rechten".
Das ist so der Kessler-Standard: kurze, möglichst abseitige Erklärung für die Nacktheit. Nein! Sie ist eben nicht nackt fürs Foto, sondern weil "sie einfach nicht weiß, was sie anziehen soll". Und dann die Schlußfolgerung: Gleich geht's rund. Gerne auch zweideutig. Uiuiui, denkt Frau Doktor und mit ihr die Leser, "wer wäscht Michele bloß nachher noch das Salzwasser von der Haut?" Ja, wer?
Vor Kesslers Amtsantritt waren diese Texte eher Abhandlungen technischer Art, die sogenannten Maße, kaum mehr. Reihum schrieb das jeder mal bei Bild, meistens - so haben wir uns das auch vorgestellt - Männer. Natürlich Männer! Einen besseren Vorwand kann es ja gar nicht geben: Man darf stapelweise Nacktfotos "sichten", dann bedichten, und nie muß man verschämt etwas Unverfängliches drüberschieben, wenn jemand zur Tür hereinkommt. Ist ja Arbeit! Muß ja gemacht werden!
Doch dann kam Katja Kessler, in Klammern 29. Und mischte die Rubrik auf. Gleich an ihrem zweiten Arbeitstag bei Bild wurde ihr eine der intern "Mieze" genannten Nackttanten auf den Tisch gelegt. Wie das denn gehe, fragte sie, was denn da stehen müsse? "Zwölf Zeilen, wie Sie lustig sind", hieß es vage. Und Frau Dr. Kessler war ziemlich lustig. Eine Nackte saß auf jenem Bild, natürlich, eine der tausend Biggis weltweit. Doch die nun auch noch vom ewigen Fitneßtraining kommen zu lassen war Kessler zu blöd. Also schmiedete sie eine kurze und, nun ja, knackige Legende: Ärztin sei die Dame und das Wartezimmer, oha, "gerammelt voll", und gleich käme wohl der Kollege. Genügte es in der Prä-Kessler-Ära, Männer bloß "gleich kommen zu lassen", sah sie das Kommen plastisch: "Mit der großen Spritze."
Ziemlich lässiger Einstand, zumal von einer echten Ärztin. Große Freude in der Chefredaktion über diese Groteske; die neue Mitarbeiterin möge doch bitte bis auf Widerruf das Fehlen von Kleidern begründen. Kein Problem: sucht vergeblich nach ihrem BH, kommt gerade aus dem Dampfbad, bereitet sich auf den Sommerurlaub vor (natürlich "last minute - kommt in letzter Minute"), Yoga in der Sonne, das Oberteil ging gestern abend im Eifer des Gefechts im großen Bett verloren.
Den Männern, denen die Bildchen eventuell als Nunja-Vorlage nützen, und Frau Kessler selbst muß zugestanden werden: Darauf muß man erst mal kommen. Das ist doch Sexismus! Genau, und zwar richtig. Die Frauen hießen nicht mehr bloß Tina oder Beate. Frau Doktor Kessler steigert die Biographiennegation ins Bizarre: die aufgeschlossene Babsi, die kurvige Carmen, die knusprige Steffi, die Fitneßbiene Caprice.
Abstrus sind die Details. Jahrzehntelang wurden die namenlosen Nackedeis spezifiziert mit Berufsangaben, die die durch unterwürfigen Blick und widerspruchslose Kleiderlosigkeit suggerierte Dauerverfügbarkeit noch unterstrichen. Sie gingen durch als ewige Sekretärinnen oder Arzthelferinnen, deren Chef dann unheilvoll "Überstunden" ankündigte, Anführungsstriche, Punkt, Punkt, Punkt. Reichte es bestenfalls mal verquer zur "Klavierlehrerin", so beförderte Kessler als erste Amtshandlung die Damen pauschal, ließ eine als "Oberzoologin mit eifrigen Jungforschern" durch den Urwald turnen. Kessler kombinierte die offenen Blusen stilistisch raffiniert mit Berufen, die sonst eher an knielange Röcke denken lassen: Referendarin, Fremdsprachenkorrespondentin, Azubi aus dem Fichtelgebirge. Oder sie qualifiziert eine "knackige Melinda" tolldreist zur "Proktologin".
Das wurde zwar rausgestrichen, doch niemand im ganzen Haus beherrscht das Genre besser. Solch schwerelose, auf mehreren Ebenen funktionierende Sinnleere hatte es noch nicht gegeben, und obendrein ist es gänzlich unverfänglich. Babsi ist nicht nur nackt, schön und großlippig, sie ist, laut Kessler - es steht da wirklich! - "Biologiefan". Ich auch, ich auch, denkt der Leser und blättert verschämt um.
Waren die Texte vorher bloß ödes Beiwerk mit Alibifunktion, so ist es gar nicht allzusehr gelogen, wenn man heute folgende Lesegewohnheit unterstellt: erst den Text und dann die Brüste, die aber gar nicht unbedingt, lieber noch mal den Text. Katja Kessler ist Emma ohne Zornesfurchen. Täglich karikiert sie subversiv die ewig gleichen Männerphantasien. "Die Darstellung der Mädchen ist ja so offenkundig reduziert, völlig plemplem. Warum sitzen die da nackt?" fragt sie. Nun ja, also, das ist so, also, na ja, Männer gucken sich das gerne an. Hüstel. Klar, denkt Frau Kessler und schreibt: "Wo sind bloß meine Wintersocken?" Sie übertreibt es einfach, veralbert die Gaga-Pornonamen, hängt ihnen immer noch ein -i, ein -chen an, verniedlicht, bis der Wahnsinn unverhohlen über die nackte Schulter lächelt.
Vielleicht gelang ihr die Eroberung der Rubrik, weil Kessler von weit her kommt. Nach zwei Tagen im zahnärztlichen Dienst bemerkte sie, daß es dies keinesfalls sein könne, packte "dieses ganze Besteck für viele tausend Mark in eine große Mülltüte", ab damit in den Keller. Und raus aus der Praxis. Schreiben wollte sie. Und wie Mick Jaggers "Sex-Luder" mit Bild eine "Sex-Spur durch Deutschland" zog, so sind Kesslers Stationen eine Miezen-Spur. Gleich ihr erster Text für einen Katalog mit Naturprodukten gelang ihr prophetisch: "Kerzen - darauf stehen nicht nur Honigbienen".
Und so ging es weiter: Während eines zweiwöchigen Praktikums beim stern wurde sie nur einmal eingesetzt: Für eine Geschichte über reduzierte Zeugungsfähigkeit hatte sie die Herstellung eines Videoprints zu überwachen - die Abbildung eines Spermiums. So geschult, landete sie beim Journal für die Frau. Ihre erste große Geschichte dort war der Klassiker "neue Kennenlernmethoden". Der Chefredakteur Stefan Lewerenz erinnert sich gerne an "unsere Katja", die er alsbald ein paar Flure zur Bild weiterreichen mußte. Zu aktiv, zu schreibwütig war sie. "Die Katja", sagt Lewerenz, "die ist ein richtig aktiver Zeitungsmann."
Dem es oft gefällt, die zwölf Zeilen Kopulationslyrik einzuleiten wie eine Comicsprechblase: schwuppdiwupp, schubidu und trallala, valleri und vallehopsasa! Oder vollkommen entgrenzt: "Labamba, gibt's hier auch Kokosnüsse?" Wer hat dich so zerzaust, Danny, beziehungsweise wer hat dich so versaut, Katja? Beim Lesen der Texte dachte man sich stets einen verschwitzten Koloß als Urheber, 56 Jahre alt, den bis auf den Alkohol schon lange keiner mehr zerzaust hat. Einen Sabbernden mit triefendem Blick, verklebten Locken auf der Stirn und zuckenden Pausbacken, der es im Auftrag der Leserschaft nötig hat. Jedoch: Es ist Katja Kessler. Eine - die staturbeschreibenden Adjektive sind in diesem Zusammenhang behutsam zu wählen - zierliche Dame, die sich selbst "einigermaßen tough" nennt. Vor dem Miezen-Schreiben holt sie sich rituell einen Kaffee - "wenn das Sekretariat einen gekocht hat". Selbst kocht sie nie, so viel Hierarchie muß sein, obwohl sie jung ist und Frau und so weiter. Kann man getrost vergessen, da trinkt sie doch lieber eine Cola, wenn der Kaffee leer ist.
Die Mieze ist bloß Etüde am Nachmittag. Davor blättert Katja Kessler auf der Suche nach Geschichten in ihrem "Willi-Wichtig-Buch", in dem die Telefonnummern von D. Bohlen bis D. Buster, von Meiser bis Lauterbach aufgelistet sind, das Kapital in ihrem, dem Unterhaltungsressort. Heute ruft sie eine Freundin der Frau von Harry Wijnvoord an, denn die kann irgendwas sagen zur gescheiterten "TV-Ehe". Will sie dann aber doch nicht. Deshalb ist jetzt Miezen-Time, in Dada-Höhen sich aufschwingend: Mi, Ma, Mausesack. Potz Blitz. Oder: Mein lieber Scholli, da muß der Techniker ran.
Kesslers Bruder hatte immer schon gesagt, sie habe einen vollkommen männlichen Humor. Und tatsächlich habe sie in der Schule am liebsten Mad-Hefte gelesen, sagt sie, unter der Schulbank. Und lächelt. Da ist man jetzt schon wieder reingefallen. Oder? Egal. So männlich wie Katja Kessler jedenfalls schrieb zuvor niemand. "Klar", sagt sie, "die Männer sind da natürlich viel vorsichtiger rangegangen, beinahe sachlich, die Gefahr, als Macho dazustehen, ist groß. Aber für mich ja nun nicht." Und so passiert es viel eher, daß ihr Ressortleiter Manfred Meier sie bändigen muß, also streichen, redigieren, wenn es zu bunt wird. "Manchmal ist es einfach zu sehr Tschakatschaka. Wir sind ja hier nicht in Absurdistan!" sagt er. Wenn zum Beispiel eine Frau auf dem Bidet sitzt und Frau Kessler "den Beckenbauer zum Rohrverlegen" erwartet. Oder sie eine Nackte, die nichts weiter ist als requisitenlos nackt, mit frappanter Logik "ihre köstlichen Äpfel zu feinem Apfelsaft verarbeiten" läßt, nicht ohne den Hinweis auf eine "attraktive Verpackung und ordentlich viel Fruchtfleich".
Das ist die Rache des nackt fotografierten Geschlechts: Jeder noch so niedere Gedanke wird von Kessler mühelos unterkellert. Zwanzig Zeilen Antiporno machen aus der Schmuddelecke eine Glanzrubrik; Katja Kessler jubelt der fleischverarbeitenden Industrie etwas unter, was deren Wesen widerspricht: Selbstironie, offene Karten. Stellt sie sich den typischen Leser vor beim Schreiben? Den der Fotochef schief lächelnd hilflos als "Kuddel vom Hafen" umreißt? Nö. Aha. "Aber lustig ist es schon, wenn man sich überlegt, daß Männer dabei feuchtwarme Gedanken kriegen." Und noch lustiger, ihnen die auszutreiben mit solchen Texten. "Das kapiert jeder, daß das ironisch ist."
Die Fotoauswahl, die Kesslers Dichtkunst vorausgeht, ist natürlich keinem Zufall überlassen, sondern einer Männerriege. Endlich, die Männer, wurde aber auch Zeit. Um 12 Uhr treffen sie sich zur großen Fotokonferenz, und da liegen rundherum auf einem langen Tisch die Bilder und Textsprengsel, die am nächsten Tag dir deine Meinung bilden. Ziemlich am Anfang des Reigens der täglich neue Stapel Miezen. Die Männer machen ihre Runde und bei den Miezen ihre Witze. Frau Kessler wird das alles gut gelaunt rächen; einerseits - und bedienen andererseits, das ist der Trick. Die aktuelle Nachrichtenlage kann die tägliche Mieze verhindern: Entweder ist der Aufmacher so erschütternd, daß es einfach nicht paßt, oder er handelt selbst von Sex.
Da ja alle Nacktmädels nackt sind, die in der Bild aber meistens blond und nicht gerade magersüchtig, stellt sich die Frage, wessen Geschmack hier entscheidend ist. Der des Chefredakteurs, berichtet der Fotochef, und von den bisherigen hatte jeder einen anderen.
Aber wo bleiben eigentlich die nackten Männer? Wäre das nicht eine Mission für die Frau, die im Nacktbildressort so vorbildlich geputscht hat? Immer wieder fordern Zusammenrottungen von Kantinenweibchen "knackige Kerle zum Ausgleich". Aber die wird es niemals geben. "Da frag' ich jetzt Sie, fänden Sie das ästethisch?" versucht der Fotochef eine rhetorische Frage. Homophob seien die meisten deutschen Männer, und nackte Frauen seien doch "irgendwie gottgegeben, das ist so".
Frau Dr. Kessler hat noch viel zu tun. Da muß die Technikerin ran.
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